Wo sich Kommunismus und Turbokapitalismus städtebaulich die Hand reichen

Unsere Exkursion startete am 12.09. und endete am 19.09. in Tirana. In dieser Zeit waren wir am 12./13.09 sowie am 17./18.09. in der Hauptstadt. Wir logierten in dieser Zeit im Hotel Oresti direkt neben dem Skanderbeg-Platz, der als Hauptplatz das Zentrum Tiranas bildet. Wir hatten so einen perfekten Ausgangspunkt, die Stadt kennenzulernen.

Auf dem Programm standen ein Besuch an der Polis Universität, deren Schwerpunkt die Ausbildung in Stadtplanung, Architektur, Bauingenieurwesen ist. In zwei Vorträgen und anschließenden Diskussionen konnten wir einen ersten Einblick in die Planungslandschaft Albaniens gewinnen. Die Rückfahrt mit dem lokalen Bus im Stau zur Rushhour gestaltete sich als heiß und langwierig. Ein Stadtspaziergang im Zentrum mit Doriana Musaj, Stadplanerin und Forscherin an der Polis Universität in Tirana, führte uns zu den aktuellen Konflikt- und Spannungsfeldern der neuesten städtebaulichen Entwicklungen. Zudem erhielten wir die Möglichkeit, die Planungsabteilung der Stadtverwaltung in Tirana zu besuchen, wo uns aktuelle Fragestellungen und Projekte vorgestellt wurden. Einen Überblick über die Stadt konnten wir uns auf Tiranas Hausberg Dajti verschaffen, auf welchen wir mit der Seilbahn Dajti Ekspres hinauf fuhren. Abschließend stand ein Besuch in einem der zahlreichen Bunker auf dem Programm.

Rücksichtslose, auf Prestigeprojekte orientierte Stadtentwicklung

Seit dem Untergang des politisch isolierten Regimes hat sich Tirana sichtlich städtebaulich stark verändert und zu wandeln begonnen. Die Entwicklung Albaniens seit den 1990er-Jahren lässt sich in Tirana unter dem Brennglas nachvollziehen. Folgende Punkte sind uns insbesondere in Erinnerung geblieben und haben für viel Diskussionsstoff gesorgt.

Prestigeprojekte vs. public interests 

Doriana erzählt uns auf dem Stadtspaziergang, wie sie daran beteiligt war, als das ehemals denkmalgeschützte, historische Theater nähe des Skanderbeg Platzes besetzt wurde und wie sich der Widerstand organisierte. Dabei handelt es sich um das 1939 auf 8500 m² öffentlichem Grund erbaute albanische Nationaltheater, welches mitsamt Grundstück an einen Privatunternehmer verschenkt werden sollte. Die Besetzer*innen hatten sich zum Ziel gesetzt, das Theater wiederzubeleben und vor der Zerstörung zu retten. So wurden verschiedenste Veranstaltungen organisiert, um die Bedeutung des Theaters für das kulturelle Leben in Tirana aufzuzeigen. Die Besetzung zog sich auch über die Zeit des ersten Lockdowns 2019 hinweg, wurde jedoch am letzten Tag vor Ende des Lockdowns unter massivem Polizeieinsatz (50 Besetzer*innen vs. 1000 Polizist*innen) aufgelöst. Wenige Stunden später waren die Bagger bereits aufgefahren und heute sind die Gebäude abgebrochen und das Areal liegt als Brache da.

Rechtlich möglich wurde der Abriss erst durch die – aus der Distanz betrachtet – leichtfertige Verschiebung der historischen Zone im Stadtzentrum und die damit verbundene Auflösung des Denkmalschutzstatus’. Wie auch an anderen Beispielen zu sehen, hat die Stadt in diesem Fall Anpassungen von planerischen Festlegungen vorgenommen, um Neubauprojekte zu ermöglichen. Solches, aus unserer fachlichen Sichtweise, unüberlegtes und leichtfertiges Handeln, ermöglichte den Abriss des Theaters inklusive Privatisierung eines ehemals öffentlichen Raumes.

Ein weiteres Beispiel für ein städtebauliches Projekt, das ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen wurde, ist die Verlängerung des Boulevards, der nördlich vom Skanderbeg-Platz aus bis zum Tiranafluss gehen soll. Als Auslöser für eine zeitgenössische Stadtentwicklung gedacht, wurde diese immense Stadtstraße mit vier Fahrspuren, zwei Busspuren, einem schmalen Zweirichtungsradweg, großzügigen Fußgänger*innenbereiche sowie Freiflächen für die künftige Stadtbahn (70 m im Querschnitt) mehr oder weniger ins Nichts gebaut. Dafür wurde der Hauptbahnhof Tirana aufgegeben. Wo der Boulevard nicht durch Freiflächen führt, wurde er in hausmannscher Manier quer durch informelle Siedlungen geschlagen. Wo Häuser nur teilweise innerhalb des Boulevards lagen, wurden diese trennscharf an der Grenze des Boulevards abgeschnitten. Ganz im Sinne der albanischen Improvisationskunst, machten die ehemaligen Bewohner*innen daraus das Beste. So haben wir ein Café besucht, das in der verbliebenen Hälfte eines Hauses entstanden ist. Das Wohnhaus sei jetzt halt woanders, meinte der Betreiber, immerhin habe er noch die Möglichkeit ein kleines Business zu führen. Es war eindrücklich, wie der Wirt diesen Eigentumsverlust (ohne Entschädigung) hingenommen und das Positive daraus gezogen hat. Er selbst sieht den Boulevard auch als gute Entwicklung, da er sich dadurch einen Aufschwung erhofft. Im Moment ist es jedoch noch schwer vorstellbar, wie sich das Stadtgefüge künftig präsentieren wird. Der Boulevard ist zwar bis zum letzten Stein perfekt gebaut, direkt angrenzend liegen jedoch noch Obstgärten informeller Bauten, Querstraßen enden nach 20m an Stützmauern und am Ende des Boulevards ist nichts als Erdhügel und Müll zu finden. Eine skurrile Erfahrung!

Der Platz, der ab 23 Uhr schläft

Der Skanderbeg-Platz bildet das geographische und administrative Zentrum Tiranas. Heute als große Freifläche mit einer Größe von rund 150 m x 150 m ausgestaltet, präsentierte er sich noch vor 10 Jahren als Verkehrsknoten. Südlich schließt eine, seit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. in ähnlicher Form gestaltete Grünfläche an, die von unterschiedlichen Gebäuden der Stadtverwaltung Tiranas gesäumt wird. Um den neu gestalteten Teil sind in der ersten Reihe verschiedene repräsentative Gebäude wie Nationalmuseum und -bibliothek, die Nationalbank oder die Oper, aber auch die älteste Moschee der Stadt und ein historischer Glockenturm, angeordnet. Letzterem rückt ein modernes Hochhaus gefährlich nahe auf die Pelle. Dieses gehört zu einer Reihe zeitgenössischer (Roh-)Bauten, die – zum Teil seit Jahren unvollendet – die Skyline um den Platz bilden. Diese unterschiedlichen Elemente erschaffen ein ungleiches Ensemble, das aber auch in der vertikalen Ausdehnung an einem Platz mit den Ausmaßen eines Skanderbeg-Platzes nicht deplatziert wirkt. Der Platz wird verschiedentlich bespielt und der aktuellen Zeit entsprechend ist ein Impfzentrum auf dem Platz aufgebaut worden. Während unseres Aufenthalts wurde jedoch auch eine Arena für einen Boxkampf errichtet, der genau bis zum Beginn der Ausgangssperre um 23 Uhr zu dauern schien und mit einem Feuerwerk abgeschlossen wurde. Der Skanderbeg-Platz ist ein gutes Beispiel dafür, dass räumlich offene Plätze solcher Größe in ihrer Mitte kaum informell genutzt oder angeeignet werden. In den Randbereichen, wo sich auch mobile Sitzgelegenheiten (unter anderem das neueste Modell der Wiener MQ Hofmöbel) zu finden sind, war der Platz sowohl tagsüber als auch abends sehr belebt. Die Arkaden des Operngebäudes fungieren Großteils als konsumfreier Raum und boten, nicht nur uns, Schutz vor einem der seltenen Regenschauer.

Go with the flow

Ein Thema, das die ganze Woche über dominierte, war der Verkehr. Wir wurden – je nachdem wie mans nimmt – Zeug*innen oder Opfer davon, wie Tirana im Verkehr erstickt. Die Strecke zur Polis Universität konnte so entweder 25 oder 45 Minuten dauern. Aussagen wie “depends on the traffic” wurden über die Woche zum geflügelten Wort, nicht nur, wenn es darum ging in Erfahrung zu bringen, wie lange eine Fahrt dauern würde. 

Grund für den täglichen Verkehrsinfarkt ist die Liebe der Albaner*innen zum Auto. Diese wurde damit begründet, dass nun halt nachgeholt bzw. kompensiert werden müsse, was während des Regimes nicht erlaubt war. Der motorisierte Individualverkehr dominiert dementsprechend das Verkehrsgeschehen und das Stadtbild

Die Busse der Verkehrsbetriebe in Tirana können als ein Treffen des who-is-who ausrangierter europäischer Busse beschrieben werden. Dies ist auch für Laien einfach zu erkennen, weil sich häufig nicht die Mühe gemacht wird, alte Beschriftungen oder Informationen zu entfernen. So ist meist nachvollziehbar, ob ein Bus früher in Berlin oder doch in Paris unterwegs war. Sofern man weiß, wo der Bus halten wird und was die Endstation der gesuchten Linie ist, lässt sich der richtige Bus durch aufmerksames Lauschen auf die Ansage der Busschreier (die dann während der Fahrt die Tickets im Bus verkaufen) eruieren. Auf die Anzeigen ist kein Verlass, da steht gerne auch mal “Schienenersatzverkehr”, was angesichts des Abrisses des Hauptbahnhof Tiranas 2014 und der allgemeinen Ablehnung gegenüber der Bahn, welche als zu “rückständig” bezeichnet wurde, doch eine gewisse Situationskomik innehat. Hat man den richtigen Bus erwischt und ist die eigene Busspur nicht einfach als zusätzliche Fahrbahn von Autofahrer*innen angeeignet, kommt man damit doch relativ gut durch die Stadt. Ob die geplante Stadtbahn, die das Stadtzentrum und den Flughafen künftig in wenigen Minuten miteinander verbinden soll, kommen wird und inwiefern sich die Situation für den öffentlichen Verkehr damit generell verbessern wird, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Es sind auch Bestrebungen vorhanden die Fahrradinfrastruktur zu verbessern. Erste Ansätze dazu sind bereits zu finden. Im Grunde widerspricht sich dieser Vorsatz jedoch mit den Plänen und Statements zu den zukünftigen städtebaulichen Entwicklungen, welche uns von der Stadtverwaltung vorgelegt wurden. Bis zu einem intakten, vollständigen Radwegenetz, das einen solchen Namen auch verdient, sind noch große Schritte zu machen. Auch war die gemäß Googlesuche angeblich existierende Citybike-Leihstation leider nirgends zu finden.

So präsentiert sich das Verkehrsgeschehen in Tirana als ein – aus Wiener Sicht – wildes Miteinander mit vielen Autos, einigen Bussen, Lastwagen, Mopeds und wenigen Fahrrädern, in dem man zu Fuß am besten überlebt, wenn man einfach mit dem Flow geht.

Feuerwerk an Stilmix

Tiranas Alleinstellungsmerkmal als (Haupt-)Stadt ist die Präsenz eines architektonischen Stilmixes auf kleinem Raum. Neben monumentalen Repräsentativbauten und Prachtstraßen aus der Ära des Kommunismus finden sich Überbleibsel aus der Zeit unter ottomanischer Besetzung und Bauten, die unter dem Einfluss des italienischen fascismo oder nach Wiener Vorbild erstellt wurden. Architektur-Unikate wie die Enver-Hoxha-Pyramide sind stille Zeugen des Personenkults um ehemalige Herrscher und Politiker. Prestigebauprojekte ab 1991 versuchen in turbokapitalistischer Manier, vermeintlich verpasste städtebauliche Entwicklungen aufzuholen. Und ist der Glanz der Fassaden verblasst, bringt bunte Farbe zumindest die Tourist*innen auf andere Gedanken. Dass sich eine teilweise mangelhafte technische Infrastrukturausstattung, Missstände und Armut mit Farbe nur oberflächlich übermalen lassen, hilft den Bewohner*innen wenig.

Es bleibt abzuwarten ob und wann, die sich teilweise seit rund 10 Jahren im Rohbaustadium befindenden Skyscraper fertiggestellt werden, sich Projekte wie der neu gestaltete Marktplatz etablieren und sich die sehr grün gefärbten, städtebaulichen Visionen für 2030 als resilient, wettbewerbs- und zukunftsfähig für Tirana erweisen werden.

Der Entscheid, ob Tirana vor Lokalkolorit nur so sprüht oder das konfuse Stadtbild zwangsläufig als Gesamtkunstwerk zu sehen ist, bleibt schlussendlich der*m Betrachter*in selbst überlassen.